NACHRUF. In Memoriam Marie Nejar (1930–2025) –eine afrodeutsche Zeitzeugin der NS- Zeit verstummt

Datum

© Dr.Herzberger-Fofana Erlangen 19.9.2015.“Black History Weeks“. Stadtbibliothek

Die Nachricht vom Tod von Marie Nejar hat mich tief erschüttert. Noch vor drei Wochen hatte ich ein Gespräch mit ihr – und ich war fest davon überzeugt, dass wir uns bald wiedersehen würden.

Sobald ich eine Kopie des Films „Sankofa „erhalte – der die Auftaktveranstaltung der „Black History Weeks Erlangen“ am 19. September 2015 dokumentiert, an der Marie Nejar   teilnahm – werde ich mich erneut melden und nach Hamburg fahren. Damals hatte die Leitung der Seniorenresidenz, in der sie lebte, angeregt, den Film den Bewohner*innen zu zeigen. Sie freute sich sehr über diese Idee sagte sogar zu, eigens für eine Vorführung nach Berlin zu reisen:

:

Wenn du die Vorführung des Filmes oder eine Veranstaltung in Berlin machst, dann komme ich. Wenn du nach Hamburg kommst, ist es besser. Und ich freue mich den Film zu sehen.“

Meine Gedanken sind bei einer liebenswürdigen und außergewöhnlichen Frau, einer der letzten afrodeutschen Zeitzeugin der NS-Zeit. Ruhe in Frieden, liebe Marie!

© Dr.Herzberger-Fofana. Erlangen 19.9.2015 “Black History Weeks”

Wer war Marie Nejar,

die zierliche Frau, die bei der Auftaktveranstaltung „Black History Weeks-Erlangen„ das Publikum mehrmals zum Lachen brachte?

Marie Nejar wurde am 20. März 1930 in Mülheim an der Ruhr geboren – als Tochter der afrodeutschen Mutter Cecilie Nejar und eines ghanaischen Schiffstewards. Mit drei Jahren kam sie zu ihrer Großmutter nach Hamburg-St Pauli. Ihre Großmutter Marie Wüstenfeld stammte aus einer großbürgerlichen Hamburger Familie und wurde von dieser verstoßen, nachdem sie einen Schwarzen Mann aus Martinique geheiratet hatte, Joseph Nejar, Maries Großvater. In Riga, wo er eine Bar betrieb, wurde er Opfer eines rassistisch motivierten Mordes: Ein Gast erschoss ihn.

2007 veröffentlichte Marie Nejar ihre Autobiographie „Macht nicht so traurige Augen, weil Du ein N…lein bist“, in der sie ihr Schicksal als Schwarzes Kind in der Nazi-Zeit aufarbeitet.

Kurz nach der Veröffentlichung ihres Buches besuchte sie mich in Erlangen, schenkte mir ihr Buch und ihre CDs. Wir verbrachten den ganzen Tag miteinander. Marie blieb der Community stets eng verbunden, las aus ihrer Biografie, in Schulen und kulturellen Einrichtungen, nahm an zahlreichen Veranstaltungen teil und übernahm gemeinsam mit Theodor Wonja Michael die Schirmherrschaft zum  30-jährigen Jubiläum der ISD (Initiative Schwarze Deutsche).

© Dr.Herzberger-Fofana. Marie Nejar (1930-2025)  „Black History Weeks“

Rassismus und Diskriminierung in der NS-Zeit

Marie Nejars Kindheit war von Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung geprägt. Bereits als Kind spürte sie die brutalen Folgen der NS- Rassenpolitik. Als sie an Scharlach erkrankte, warnte ihr jüdischer Hausarzt, Dr. Blumenthal eindringlich davor, sie ins Krankenhaus einzuweisen-– dort drohte die Zwangssterilisierung. Er behandelte sie täglich zuhause. Kurz darauf wurde er selbst verhaftet.

„Ein Erlebnis ist mir aber noch gut im Gedächtnis geblieben, es war kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Ich war sehr krank, und Dr. Blumenthal, unser jüdischer Hausarzt, kam vorbei. In meinem Fieberwahn hörte ich, wie er sagte:“Die Mia hat Scharlach mit Komplikationen. Die ganze Haut schält sich bei ihr ab. Eigentlich müsste sie ins Krankenhaus „.“Was heißt eigentlich? „   fragte meine Oma verunsichert.

„Sie wissen doch, Frau Nejar, die Rassengesetze. Man würde Ihre Enkelin zwar behandeln, aber mit großer Wahrscheinlichkeit würde man sie sterilisieren, damit sie als junge Frau keine Kinder bekommen kann. Sie kennen doch das <Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre>.”(S. 88 Mach nicht so traurige Augen, weil du ein N…lein bist. )

Die Gefahr der   Zwangssterilisierung bedrohte viele afrodeutsche Kinder und Jugendliche zu dieser Zeit. In der NS-Zeit wurden Kinder in Deutschland zwangssterilisiert, wenn sie aus Beziehungen mit Schwarzen Menschen meist  Kolonialsoldaten stammten. 

Der Rassenwahn der NS-Ideologie nahm mehreren Formen an. Marie durfte nicht mehr am Geigenunterricht teilnehmen, wurde vom Weihnachtskonzert ausgeschlossen und schließlich trotz offizieller Einladung aus dem „Bund Deutscher Mädel“  (BDM) rausgeschmissen, als sie sich mit der Vorladung beim Amt meldete. – ein „Glück“ wie ihre Großmutter später meinte.

Filmkarriere-ein perfides Überleben

 Marie Nejar als Krankenschwester – von Marie Nejar erhalten

Auf Anweisung von Joseph Goebbels wurde Marie Nejar in rassistischen Propaganda-Filmen wie „Quax in Afrika“ oder die „Afrika-Operette“ eingesetzt. Dort personifizierte sie -als „palmwedelndes“ und mitleidheischendes Mädchen die kolonialrassistischen abwertenden Klischees jener Zeit.

 „Man hat uns wie Idioten behandelt, die die primitiven, unwissenden Afrikaner spielten.“

So überlebte sie die NS-Zeit – perfider Weise durch ihre Rolle als exotisiertes „Vorzeigekind“. Die Unterhaltungsbranche bot ihr eine gewisse Sicherheit. Für die Dreharbeiten wurde sie vom Unterricht freigestellt. Die Entschuldigungen trugen Goebbels’ Unterschrift.

Aufgrund der Nürnberger Rassengesetze war ihr Leben stark eingeschränkt: Sie durfte keine Ausbildung machen, verlor ihre deutsche Staatsbürgerschaft und wurde staatenlos. Schließlich wurde sie zur Zwangsarbeit in einer Keksfabrik verpflichtet.

Nach dem Krieg erhielt sie dank der Geburtsurkunde ihres verstorbenen Großvaters aus Martinique die französische Staatsangehörigkeit. Martinique ist ein überseeisches Departement Frankreichs und gehört zur Europäischen Union, was bedeutet, dass die Bürger*innen Franzosen sind.

Erst 1990 -mit Eintritt in den Ruhestand wurde sie wieder eingebürgert. Sie erhielt ihren deutschen Pass zurück – ein symbolischer wie persönlicher Akt, den sie sich hart erkämpft hatte.

von Marie Nejar erhalten

Marie Nejar als Sängerin

In den 1950er-Jahren wurde sie unter dem Künstlernamen „Leila Negra“  als Kinderstar bekannt – ein Name, den sie später ablehnte. Das Lied „Mach nicht so traurige Augen, weil du ein N…lein bist“ wurde ein Schlager und sogar zum Titel ihrer Autobiografie. An der Seite von Peter Alexander, dem Liebling Star der Nachkriegsgesellschaft,  sang sie im Duett, das Lied „Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere“ und das rassistische „N…Wiegenlied.“  Mit solchen Liedern tourte sie durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Obwohl sie bereits 20 war, präsentierte man sie als 14-Jährige mit Teddybär in Arm. Mit 27 verweigerte sie das erste Mal das Singen des Liedes  sie sagte:

 „Ich war kein Sonnenscheinchen mehr, es ging einfach nicht mehr.“

Sie entschied sich für einen anderen Weg: Sie wurde Krankenschwester und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung im Universitätsklinikum Eppendorf. Bis vor wenigen Jahren lebte sie in Hamburg-Eimsbüttel – unweit jenes Viertels, in  dem sie die  NS-Zeit überstanden hatte.

Ein deutsches Leben

Marie Nejar war eine deutsche Frau  – und musste dies ihr Leben lang immer wieder betonen. Bei der Veranstaltung in Erlangen sagte sie augenzwinkernd: 

 „Ich bin eine Deutsche, es hilft  ja nichts“.

Das Publikum lachte, doch hinter dem Satz steckte bittere Wahrheit. Für ihre Anerkennung als solche kämpfte sie bis ins hohe Alter.  In einem Interview zu ihrem 85. Geburtstag sagte sie: „Alle sehen in mir immer das Exotische, nicht das Deutsche“, (Die Zeit Online, 20.03.2015)

Die drei  Helden*in der NS-Zeit

© Dr.Herzberger-Fofana v.l. Gert Schramm , Marie Nejar und Theodor Wonja Michael. Erlangen 19.9.2025

Am 19. September 2015 sprach sie gemeinsam mit Gert Schramm (1928–2016) und Theodor Wonja Michael (1930–2019), zwei Afrodeutsche Zeitzeugen bei der Eröffnung der Black History Weeks in Erlangen.  Über 100 Zuhörer*innen lauschten ihren Worten- auch über jene schmerzhaften Momente ihres Lebens – etwa, wie Mitschülerinnen ihr einredeten sie sei „schmutzig“ worauf sie versuchte, ihre Haut mit Seife „abzuwaschen“. Solche Erfahrungen waren vielen afrodeutschen Kindern und Jugendliche jener Zeit nicht fremd. Etliche weiße Eltern drohten ihren Kindern mit solchen dummen Sprüchen:

 „Wenn du nicht artig bist und dich nicht wäschst, wirst du schwarz.“ Auch Ika Hügel-Marshall schildert in ihrer Autobiografie „Daheim unterwegs, ein deutsches Leben“ ähnliche Erfahrungen.

Wenn ich an die Erlanger Veranstaltung Black History Weeks zurückdenke, bin ich überzeugt: Wir haben den ältesten afrodeutschen Zeitzeuginnen ein würdiges Forum gegeben. Hunderte Menschen hörten damals ihre Botschaften gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Ausgrenzung.

Als Ehrenbürgerin der Stadt Erlangen darf ich sagen: Wir alle trauern. Marie Nejar hat sich leise von dieser Welt verabschiedet – so wie sie gelebt hat – und ist in das Reich der Schatten zurückgekehrt.

Die Erinnerungskultur bewahren

Mein Wunsch ist, dass der Film „Sankofa“ in allen Kultureinrichtungen und Schulen gezeigt wird – ebenso bei der Berlinale und beim FESPACO, dem afrikanischen Filmfestival in Ouagadougou (Burkina Faso).

Denn dieser Film dokumentiert einen wichtigen, verdrängten Teil unserer Geschichte: die Perspektiven und Erfahrungen von Menschen afrikanischer Herkunft im Nationalsozialismus.

Mit „Sankofa“   haben wir Marie Nejar, Gert Schramm, Theodor Wonja  Michael und allen Schwarzen Menschen, die unter dem NS-Regime litten oder in KZs inhaftiert waren, ein Denkmal gesetzt. Ihr Leiden war nicht umsonst.

Durch Marie Nejar sind Menschen afrikanischer Abstammung   bzw. Afrodeutsche in das historische Gedächtnis Deutschlands eingetreten.

Wir verneigen uns respektvoll vor Marie Nejar.  Die Stimme einer Ikone der Community ist für immer verstummt.

Sie ist für immer eingeschlafen.  Möge sie im „Garten der Frauen“ in Hamburg in Frieden ruhen!

Allen, die sie kannten und liebten, spreche ich mein aufrichtiges Beileid aus.

R.I.P.

Dr. Pierrette Herzberger-Fofana
EU-Abgeordnete a.D.
Ehrenbürgerin der Stadt Erlangen

Im Internet

Pierrette Herzberger-Fofana Marie Nejar, die letzte afrodeutsche Zeitzeugin.https://herzberger-fofana.eu/2025/05/16/marie-nejar-die-letzte-afrodeutsche-zeitzeugin-20-maerz-1930-11-mai-2025/

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