In Memoriam: Ika Hügel-Marshall

Datum

Meine Rezension zu

„Daheim Unterwegs – Ein Deutsches Leben“

Ika Hügel Marshall studierte in Frankfurt am Main Sozialpädagogik und arbeitet als Pressereferentin im Orlanda Frauenverlag. 1947 kam sie in einer kleinen bayrischen Stadt auf die Welt. Ihr Vater, ein amerikanischer Soldat, wird kurz vor ihrer Geburt in die USA zurückbeordert. Mit 46 Jahren begegnete sie ihm in Chicago zum ersten Mal.

Er schloss diese unerwartete Tochter in sein Herz und empfing sie mit viel Wärme. Dort lernte sie die anderen Geschwister und ihre Stiefmutter kennen. Leider starb ihr Vater kurz nach diesem Wiedersehen. Zuvor jedoch nahm er Ika offiziell als seine Tochter an und gab ihr seinen Namen, so wie sie es sich immer gewünscht hatte.

Die Nachkriegszeit war noch in Form des „Fraternisierungsverbots“ von der Ideologie des zweiten Weltkriegs geprägt. Als am 12. September 1945 dieses Gesetz verkündet wurde, regelte es das Verhalten der alliierten Streitkräfte gegenüber der deutschen Bevölkerung. Laut dieser Verordnung war es Angehörigen der Alliierten untersagt, sich in Wohnungen von Deutschen aufzuhalten, sie zu Tanz, Sport, öffentlichen Veranstaltungen oder Spaziergängen zu begleiten oder auch deutsche Frauen zu heiraten. Liebe jedoch kennt keine Grenzen und Gesetze. Zahlreiche Verbindungen wurden geknüpft und daraus entstanden die selbstverständlich auch Kinder. Leider wurden sie unter dem hässlichen Begriff der „Besatzungskinder“ offiziell abgestempelt. Somit wird Ika von Geburt an als „N****-mischling“ stigmatisiert, für ihre Umwelt wird sie für immer ein „Besatzungskind“ bleiben:

„Von ihnen („Besatzungskinder“) sind 1941 bei der Mutter, 388 in der Familie und bei der Mutter, 450 in Pflegestellen, 314 in Heimen untergebracht. Völlig ohne Familienbindungen wachsen 350 heran. Bei den in Heimen oder Pflegestellen untergebrachten Kindern kümmern sich in 363 Fällen die Mütter noch um die Kinder. Insgesamt 362 farbige Väter nehmen noch Anteil an dem Ergehen ihrer Kinder, davon sind innerhalb des Bundesgebietes 292. 68 unterstützen ihre Kinder vom Ausland her. 20 N***** haben nach Ableistung ihrer Militärzeit nachweislich in Frankreich Asyl gefunden und dort die deutschen Mädchen oder Frauen geheiratet.“

Die öffentlichen Stellen machten sich tatsächlich Sorgen über die Zukunft dieses Teils der Bevölkerung und beschlossen das Problem an der Wurzel zu packen. Die Jugendämter wurden angewiesen, Müttern zu raten, ihre Kinder entweder zur Adoption freizugeben oder in Heime unterzubringen.

„Wenn ich Ihnen einen guten und ehrlichen Rat geben darf, dazu bin ich ja Jugendamtsleiter und für solche Angelegenheiten zuständig: Sie tun gut daran, ihr Kind wegzugeben. Geben Sie es in eine Einrichtung, wo es unbeschwert aufwachsen kann.“ (S. 20)

Nach ihrer Heirat wird die Mutter dann aufgefordert dem „guten Rat“ des Jugendamtes zu folgen. Somit wächst Ika in einem von Nonnen geleiteten Kinderheim auf. Dort wird sie mit dem Christlichen Gebot der Nächstenliebe auf merkwürdige Weise konfrontiert. Die Nächstenliebe nimmt in Form von körperlicher Züchtigung und seelischem Missbrauch Gestalt an. Als zum Beispiel eine Nonne vermutet, Ika könnte ihren eigenen Körper entdecken und sich daran erfreuen, werden ihr sechs Monate lang nachts die Hände verbunden. (S.52)

Trotz guter schulischer Leistung wird ihr der Eintritt in die Oberschule mit der Ausrede verweigert, sie würde dann nie einen Mann finden, der sie versorgen wird. Darauf beschließt die Schwester, das Ika als Pflegerin ausgebildet werden müsse. Die Ausbildungszeit ist auch eine Zeit der Erniedrigung und Demütigung. Ika wird immer wie eine Bürgerin zweiter Klasse behandelt. Als einzige wird sie zum Beispiel von der Oberin geduzt.

„Für mich hat das Siezen eine ganz andere, positive Bedeutung, weil mit selbst ständig und überall Menschen begegnen, die sich das Recht nehmen, mich sofort zu duzen, womit sie mir signalisieren, daß sie mich nicht respektieren und nicht als gleichberechtigen Mitmenschen akzeptieren.“ (S. 69)

Der Leser ist verblüfft, zu entdecken, mit welcher Selbstverständlichkeit ein junger Mensch aufgrund seiner Hautfarbe bewusst zerstört wird. Die vielen Details ziehen sich wie ein roter Faden durch die Erzählung.

Mit fast übermenschlicher Kraft und Entschlossenheit meistert Ika ihren Lebensweg und versucht sich in dieser Umgebung daheim zu fühlen. Mit 30 Jahren begegnet sie anderen afro-deutschen Menschen und lernt, dass sie nicht allein ein solcher Schicksal erfährt. Daraus schöpft sie Kraft und Mut, positive Veränderungen wie Selbstbewusstsein und Stolz auf ihre Hautfarbe herbeizuführen. Sie widmet sich zuerst dem Verteidigungssport, Taekwondo, erreicht ihren schwarzen Gürtel, führt ihr Studium fort, lernt englisch, dann ihr inniger Wunsch bleibt ihren leiblichen Vater kennenzulernen. Sie macht sich auf die Suche nach ihm und dank einer Freundin gelingt es ihr, ihren „Dad“ zu finden. Es empfängt sie mit viel Liebe und ihre Geschwister freuen sich genauso wie ihre Stiefmutter über das neue Familienmitglied. Für Erika eröffnet sich eine neue Welt, die sie selbst folgendermaßen in einem Brief zusammenfasst, den sie an ihre Familie anlässlich des Todes des gemeinsamen Vaters schickte:

„Ich fand Dich und wurde für die Demütigung und Kämpfe entschädigt…“

„Ich fand Dich und war voller Angst und Vorsicht. Du aber strecktest mir Deine Hand entgegen und schlossest mich in Deine Arme und Dein Herz. Dir zu begegnen heilte mich und gab mir die Kraft, aufrecht und stolz durch diese Welt zu gehen. Ich fand Dich und werde Dich nie wieder verlieren.“ (S. 154)

Diese Lebensgeschichte, die mit viel Sensibilität geschrieben ist, zeigt ein anderes Bild der Nachkriegszeit. Die Kinder der Liebe bezahlen mit allerlei Demütigungen und innerem Schmerz den „Fauxpas“ der Mütter; der eigentlich nur darin bestand, dass sie nach den geltenden Gesetzen den Partner ihrer Herzen nicht frei lieben durften.

Weitere
Artikel

Schneller informiert

Abonnieren Sie meinen Newsletter