Die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus im Europäischen Parlament

Datum

Die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus im Europäischen Parlament

Am 20. April 2023 eröffnete Helena Dalli, Kommissarin für Chancengleichheit, im Europäischen Parlament in Straßburg offiziell die Ausstellung „The Forgotten Victims of the Nazi Era“ (Die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus).

Das Europäische Parlament als Ort der Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Toleranz ist der ideale Ort, um diese facettenreiche Ausstellung zu präsentieren, die auf die oft vergessenen Opfer des Nationalsozialismus aufmerksam machen soll.

Sie umfasst die Biografien von den Menschen, die zu Gruppen gehören, die unter den Nationalsozialisten zu leiden hatten.  Dazu gehören: Schwarze oder Afrikaner*innen, Sinti*zze und Rom*nja, Zeug*innen Jehovas, Homosexuelle und Menschen mit Behinderungen.

Diese Menschen waren alle Opfer von Verfolgung und Gewalt. Sie werden jedoch kaum erwähnt, wenn der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gedacht wird. Unsere Pflicht zur Erinnerung erfordert es, über ihr unbekanntes Leid zu berichten, um sie in unser kollektives Bewusstsein aufzunehmen. 

Die Ausstellung „Die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus“

Die Ausstellung mit dem Titel: „The Forgotten Victims of the Nazi Era“ (Die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus) ist das Ergebnis gemeinsamer Arbeit der Abgeordneten Romeo Franz, Katrin Langensiepen, Dr. Sergey Lagodinsky und Dr. Pierrette Herzberger-Fofana. Jeder *e Abgeordnete wählte sein/ihr  eigenes Thema.

Herr Romeo Franz zeigte Biografien von Sinti*zze und Rom*nja, die im Deutschen abwertend als „Zigeuner“ bezeichnet werden, Katrin Langensiepen veranschaulichte das Euthanasieprogramm, das insbesondere auf Menschen mit Behinderungen und Zeugen Jehovas abzielt. Sergey Lagodinsky sprach über die Verfolgung von Jüd*innen und Zeug*innen Jehovas in seiner Heimat Russland.

Zeugen der Geschichte

Ich habe durch die Ausstellungsfotos die Gräueltaten dargestellt, die an Afrikaner*innen und ihren afrodeutschen Nachkommen begangen wurden.

Unser Ziel ist es, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und diese in den Geschichtsbüchern verschwiegenen Opfer aus der Vergessenheit zu holen, indem wir ihnen eine Stimme verleihen. Es ist wichtig, die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus wachzuhalten und dafür zu sorgen, dass diese tragischen Schicksale nicht vergessen werden.

Alle Opfer des Nationalsozialismus müssen geehrt werden. Wir dürfen niemanden außen vorlassen. Es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, uns an die Vergangenheit zu erinnern und daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen. 

Straßburg. Europäisches Parlament. 19.04.2023. ©Dr. Pierrette Herzberger-Fofana.

Meine Ausstellung: „Black People, Victims of the Nazi Era 1939-1945“

Meine von mir konzipierte und realisierte Wanderausstellung in englischer und deutscher Sprache wurde in den Rahmen der „Vergessenen Opfer des Nationalsozialismus“ aufgenommen. Die Ausstellung trägt den Titel: „Black People, Victims of the Nazi Era 1939-1945“ (Schwarze Menschen, Opfer der Nazi-Ära 1939-1945) und wird demnächst in Erfurt und anschließend in München gezeigt. Eine französische Version wird in Kürze ebenfalls verfügbar sein.

Die Wanderausstellung umfasst Fotografien, Häftlingspersonalbögen, persönliche Briefe und historische Dokumente, die ein bewegendes Bild des Lebens und des tragischen Schicksals von afrodeutschen, Schwarzen Menschen und Afrikaner*innen und Menschen von den Antillen während der Naziherrschaft vermitteln. Die Biografien von Gert Schramm, Marie Nejar und Theodor Wonja Michael zeugen von ihren Erfahrungen mit Diskriminierung, Rassismus und dem Ausschluss aus der Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland. 

„Schwarze Menschen, Opfer des Dritten Reiches 1939-1945“: Zeitzeug*innen

Gert Schramm. Eberswalde, 2014. ©Dr. P. Herzberger-Fofana

Gert Schramm (1928-2016) Geboren als Sohn eines afro-amerikanischen Vaters und einer deutschen Mutter, wurde Gert im Alter von 15 Jahren in das Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert. Dort blieb er bis zum Ende des Krieges. Seine Autobiografie ist die beeindruckende Erzählung eines jungen Afrodeutschen, dessen Schicksal sich von einem Tag auf den anderen änderte. Gert Schramm erlebte die Zeit des Dritten Reiches. Er ist Augenzeuge des Nationalsozialismus. In seiner Autobiografie „Wer hat Angst vor Schwarzen Mann. Mein Leben in Deutschland“ berichtet er von den Schrecken, die er in verschiedenen Gestapo-Gefängnissen und im Konzentrationslager erlebte.

Ich hatte die Ehre, ihn mehrmals in unsere Stadt Erlangen einzuladen, insbesondere bei der Eröffnung der von mir organisierten Kulturveranstaltung „Black History Weeks“ im Jahr 2015. Er war einer von drei Afrodeutschen, die Nazi-Deutschland überlebt hatten und an der von mir organisierten Podiumsdiskussion teilnahmen. Diese sind: Gert Schramm, Marie Nejar und Theodor Wonja Michael. Es war das erste und letzte Mal, dass drei überlebende Afro-Deutsche aus der Zeit des Nationalsozialismus gemeinsam in der Öffentlichkeit auftraten.

2014 verlieh ihm die deutsche Regierung „Das Bundesverdienstkreuz am Bande“. Ich empfehle Schüler*innen in Deutschland dringend seine Autobiografie zu lesen. Sie ist eines der wenigen Dokumente, die von einem Afrodeutschen geschrieben wurde, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Er durchlebte die Hölle der Konzentrationslager in einer Zeit, in der die Hautfarbe so entscheidend war, dass selbst Teenager eingesperrt wurden: Gert Schramm war erst 15 Jahre alt, als er nach Buchenwald gebracht wurde. 

Erlangen, 17.09.2015. „Black History Weeks“. ©Dr. P. Herzberger-Fofan

Von den drei Überlebenden, die ich 2015 nach Erlangen eingeladen hatte, ist Marie die einzige, die noch lebt. Sie wurde in Mühlheim an der Ruhr geboren und wuchs in Hamburg auf , wo sie auch heute noch lebt. Ihr Großvater stammte aus Martinique, ihr Vater aus Ghana und ihre Mutter war eine deutsch-französische Frau aus Martinique. Marie Nejar hatte die französische Staatsbürgerschaft bis 1990, als sie sich einbürgern lassen konnte. Die Nazis hatten ihr nämlich die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen.

Als schwarzes Kind in Nazi-Deutschland musste Marie Nejar auf Befehl des Propagandaministers Goebbels in den rassistischen Propagandafilmen der Nazis mitzuspielen. Aufgrund der Gesetze der „Rassenschande“ konnte Marie Nejar ihre Schulausbildung nicht abschließen und wurde zur Zwangsarbeit in einer Fabrik gezwungen.

In der Nachkriegszeit begann sie eine Karriere als Sängerin unter dem Künstlernamen „Leila Negra“. 1957 fing sie eine Ausbildung zur Krankenschwester an und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1990 an der Universitätsklinik in Hamburg. Ihre Biografie ist, ebenso wie die von Gert Schramm, nur auf Deutsch verfügbar. Sie trägt den Titel „Mach nicht so traurige Augen, weil Du ein N…lein bist. Meine Jugend im dritten Reich“. Ich hoffe, dass ihre Autobiografie auch in andere Sprachen übersetzt wird.

Theodor Wonja Michael (1925-2019)

Straßburg. Europäisches Parlament. 19.04.2023. ©Dr. Pierrette Herzberger-Fofana.

Wurde in Berlin als Sohn eines kamerunischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Schon früh wurde er als Vollwaise einer Familie anvertraut, die einen Zirkus besaß. Während des Dritten Reichs reiste er als Zirkuskind durch viele Länder Europas. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er in einem Arbeitslager interniert und später als Darsteller in rassistischen Propagandafilmen requiriert. Nach dem Krieg beendet er seine Schulausbildung und beginnt ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und des Journalismus.

Er arbeitete als Theaterschauspieler, dann als Journalist und schließlich beendete er seine berufliche Laufbahn als Regierungsdirektor des Bundesnachrichtendienstes. 

Ich freue mich, dass der Präsident der Bundesrepublik Deutschland meiner Bitte nachgekommen ist und ihm im Januar 2018 die höchste Auszeichnung unseres Landes, das „Bundesverdienstkreuz am Bande“, verliehen hat.

Für Theodor bedeutet die Verleihung des „Bundesverdienstkreuzes“, dass Deutschland ihn als vollwertigen deutschen Staatsbürger anerkennt, da die Nazis ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen hatten. Auch wenn diese Medaille die vielen Demütigungen und rassistischen Anfeindungen nicht auslöschen kann, ist diese Auszeichnung für ihn wie eine späte Entschuldigung und eine Anerkennung seines Engagements und seines Lebenswerks. Das wurde mir bewusst, als ich ihn zwei Wochen vor seinem Tod in seinem Altersheim in Köln besuchte. Er hatte diese Auszeichnung eingerahmt und an die Wand seines Zimmers gehängt.

Als er mir an diesem Tag die französische Übersetzung seines Buches widmete, schrieb er: „Liebe Pierrette, ich bete und hoffe, dass du im Europäischen Parlament eine gute Arbeit leisten wirst. Sei eine gute Vertreterin unserer Sache„.

Dies war sein letzter Wunsch an mich, den ich als moralische Pflicht betrachte. Seine Autobiografie wurde ins Französische unter dem Titel „Allemand et Noir en plus!“ und ins Englische unter dem Titel „Black German: An Afro-German Life in the Twentieth Century“ übersetzt. 

Seine Erinnerungen sind ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie Rassismus und Ausgrenzung in sozialen Systemen bestehen und was man dagegen tun kann. 

Afrikaner*innen, Afrodeutsche und Menschen afrikanischer Abstammung, die zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland lebten, wurden Opfer der Barbarei der Nazis. Sie waren allen Arten von diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt. In der Regel verloren sie aufgrund ihrer Hautfarbe ihre Arbeit und wurden inhaftiert. Die Nazi-Regierung entzog ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft, auch wenn sie gebürtige Deutsche waren. Schlimmer noch: Ihnen drohten vor allem Sterilisation, Inhaftierung und Mord.  Im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nazis wurden sie als Versuchskaninchen für medizinische Experimente missbraucht. Die Erinnerung an den Holocaust ruft das Ausmaß der Gräueltaten des Nazi-Regimes in Erinnerung. 

Die Widerstandskämpfer in Europa

Tapfere afrikanische und karibische Widerstandskämpfer zeigten ihr unerschütterliches Engagement für das „Mutterland“, das damals aus Frankreich, Belgien und weiteren bestand, indem sie sich an den Widerstandsbewegungen in Europa beteiligten. Sie heißen unter anderem: Jean Vosté, der eine kongolesische Mutter und einen belgischen Vater hatte und in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurde.

Dominique Mendy ©Dr. P. Herzberger-Fofana

Dominique Amigou Mendy aus dem Senegal, der in das Lager Neuengamme deportiert wurde und Fotograf von Präsident Léopold Sédar Senghor war oder Raphael Élizé, Bürgermeister von Sablé-sur-Sarthe, der von den Nazis seines Amtes enthoben wurde. Er wurde nach Weimar deportiert, wo er bei einem Bombenangriff ums Leben kam. 

Jüd*innen, Schwarze Menschen und Afrikaner*innen, Sinti*zze und Rom*nja, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Wehrdienstverweigerer und Widerstandskämpfer wurden von den Nazis in unvorstellbarer Weise grausam behandelt.

Die Ausstellung „Die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus“ erinnert an diese Menschengruppen.

Straßburg, Europäisches Parlament. 18.04.2023. (v.l.n.r) Dr. Sergey Lagodinsky, Katrin Langensiepen, ©Dr. Pierrette Herzberger-Fofana, Romeo Franz.

Schlussfolgerung

Je mehr wir über die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes berichten, je vollständiger wir verstehen, was die nationalsozialistische Ideologie hervorgebracht hat, desto besser können wir uns weiterhin gemeinsam auf eine friedliche Zukunft vorbereiten. Dies ist angesichts des Wachstums rechtsextremer Parteien in vielen Ländern Europas und der Welt mehr als notwendig. 

Wir müssen weiterhin gegen Diskriminierung, Rassismus und Vorurteile in all ihren Formen kämpfen, damit die Welt nie wieder die Schrecken des Nationalsozialismus erleben muss.

Weitere
Artikel

Schneller informiert

Abonnieren Sie meinen Newsletter