Wieviel Diaspora steckt in wem?

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Gedanken über Zugehörigkeit und Selbstbezeichnung

Nach der Definition der Kommission der Afrikanischen Union besteht die afrikanische Diaspora aus „Menschen afrikanischer Herkunft, die außerhalb des afrikanischen Kontinents leben und bereit sind, zu seiner Entwicklung und dem Aufbau der Afrikanischen Union beizutragen, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft und Nationalität“. Neben Nordafrika, Westafrika, Zentralafrika, Ostafrika und dem südlichen Afrika gilt die afrikanische Diaspora als die „sechste Region“ Afrikas. Sie verteilt sich mit 39,16 Millionen Menschen in Nordamerika, 112,65 Millionen in Lateinamerika, 13,56 Millionen in der Karibik und 5,51 Millionen in Europa auf die ganze Welt.

Diese diasporische Gemeinschaft ist eng verbunden mit dem afrikanischen Kontinent, seiner Zukunft wie auch seinem kulturellen Erbe. Menschen, die sich der afrikanischen Diaspora zugehörig fühlen, schöpfen aus dieser Zugehörigkeit identitätsbildende Elemente und sorgen gleichzeitig für die Bereitstellung von Mitteln für Afrika. Entsprechend wird ihre Diaspora von der Afrikanischen Union als integraler Bestandteil des afrikanischen Kontinents betrachtet. Dabei spielen Geldströme eine wesentliche Rolle. Der finanzielle Beitrag der afrikanischen Diaspora für Afrika ist circa doppelt so hoch wie der Gesamtbetrag aller Gelder aus europäischer Entwicklungshilfe.

Dabei ist aber nicht zu verkennen, welchen Stellenwert die afrikanische Diaspora einnimmt, wenn es darum geht, die Welt als solche zu betrachten. Die Wurzeln der afrikanischen Diaspora liegen in Afrika. Ihre Anwesenheit ist eine Anwesenheit in der Fremde. Ihre Existenz in den verschiedenen Teilen der Erde birgt immer auch einen afrozentrischen Gegenentwurf zur amerikanischen oder europäischen Geschichtsbetrachtung. Eine diasporische Weltsicht bringt auch immer erkenntnistheoretische Fragestellungen und Kritikpunkte mit sich, die alle Segmente gesellschaftlichen Zusammenlebens und wirtschaftlichen Handelns tangieren. So gesehen ist eine Diaspora, ob nun die afrikanische, die asiatische oder die jüdische, im Großen und Ganzen unserer Weltbevölkerung eine unbedingt notwendige Instanz, um Gleichgewichte anzustreben, um Horizonte zu weiten und im besten Fall nachhaltigen Frieden zu stiften.

Ich verstehe mich als Teil der afrikanischen Diaspora. Durch meine politische Arbeit begegne ich vielen Schwarzen Menschen, die sich dieser ebenso zuordnen wie ich es tue. Und ich begegne – speziell in Deutschland, wo ich mein Zuhause habe – vielen (jungen) Schwarzen Menschen, die sich weniger der afrikanischen Diaspora zuteilen als vielmehr der Gruppe deutscher „BPoC“, also einer Gruppe, die sich als „Blacks and People of Colour“ bezeichnet.

Ich sehe hier deutlich, dass Menschen, die in Deutschland geboren sind und keine Verbindung zu Afrika haben oder pflegen (möchten), dem menschlichen Bedürfnis nachgehen, sich innerhalb einer Gruppe verbunden zu wissen, und sei es nur begrifflich. Ich nehme auch wahr, dass die Bezeichnung „People of Colour“ eine geschichtliche Wandlung durchlaufen hat und zum jetzigen Zeitpunkt als Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismus erfahren benutzt wird. Entsprechend gibt es im Rahmen dieser Bezeichnung einen aus meiner Sicht begrüßenswerten Zusammenschluss unterschiedlicher Menschen, die mit allen Konsequenzen teilen, nicht weiß zu sein und entsprechend nicht über bestimmte gesellschaftliche Privilegien zu verfügen.

Bei allem Respekt vor diesen begrifflichen Entwicklungen rebelliert ein gewichtiger Teil von mir, wenn der Begriff „People of Colour“ fällt. Er ist meinem historischen Bewusstsein nach unumwunden verknüpft mit der Geschichte der Sklaverei: „People of Colour“ war über lange Zeit die Bezeichnung für Kinder, die zu Kolonialzeiten von weißen Sklavenhaltern und Schwarzen Sklavinnen gezeugt wurden und die in diesem Zusammenhang nicht selten Maßnahmen erleben mussten, mit denen der im übertragenen Sinne „Schwarze Anteil“ in ihnen ausgelöscht werden sollte. „Gelöscht“ wurde in diesem Zusammenhang auch kategorisch der Kontakt des jeweiligen Kindes zu seiner Schwarzen Mutter und dem weiteren „Schwarzen Anteil“ der Familie. Es gibt viel Dokumentationsmaterial für entsprechende belgische, französische, deutsche, niederländische Vergangenheiten, zu dem ich in diesem Rahmen nicht ausholen möchte. Für mich wichtig zu benennen ist: Ich weigere mich in Bezug auf diese Spur der Geschichte schon seit vielen Jahren, People of Colour als Selbstbezeichnung anzunehmen.

In dieser Weigerung steckt auch die Aufforderung an jüngere Generationen, der Geschichte der Sklaverei und damit den langen Jahrhunderten des Kolonialismus gerade im Kontext heutiger Antirassismus-Arbeit verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. Es steckt auch die Aufforderung darin, den älteren Generationen, zu denen ich mich zähle, zuzuhören, deren gewachsenen Standpunkten nachzugehen und miteinander im Gespräch zu bleiben.

Als Schwarze Frau, in Mali geboren, im Senegal aufgewachsen, in Frankreich und Deutschland ausgebildet, in Erlangen und Brüssel lebend, kann ich sagen: Ich bin Senegalesin, Deutsche, Afrikanerin und Europäerin, ich habe als Politikerin Privilegien, als Schwarze Frau aus älterer Generation erfahre ich Diskriminierungen, ich bin immer irgendwie in der Fremde und immer irgendwie Zuhause. Und ich würde es mir niemals leicht machen wollen diese teils widersprüchlichen Gegebenheiten abzukürzen und mich mit der Überschrift „PoC“ zu beheimaten. Ich gebe zu, in dem Begriff steckt eine zusammenschweißende, kämpferische Kraft. Doch sie versteckt auch die vielen Differenzierungen, Widersprüche und Besonderheiten, die Lebensläufe und damit Menschen ausmachen.

Wir sollten differenzieren und über Differenzen sprechen, um einig zu werden!

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