Unsere Gesellschaft bewegt sich in Richtung einer immer besseren Gleichstellung der Geschlechter. Dennoch: zu Beginn des 21. Jahrhunderts existieren Praktiken und Zustände, die dieser erfreulichen Entwicklung diametral entgegenstehen. Solange Frauen und Mädchen auf dieser Welt Opfer von Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt sind, müssen wir entschieden für die Sicherung der körperlichen Unversehrtheit eines jeden Menschen kämpfen. Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf die Nulltoleranz gegenüber weiblicher Genitalverstümmelung gelegt werden.
Am 6. Februar jedes Jahres begehen Organisationen und Verbände, Einzelpersonen und Gruppen den Internationalen Tag der Nulltoleranz gegenüber weiblicher Genitalverstümmelung. Es ist ein wichtiges Datum, um gemeinsam gegen diesen überholten Brauch aufzustehen.
Weibliche Genitalverstümmelung/-beschneidung (Female Genital Mutilation/Cutting, kurz: FGM/C) umfasst jeden Eingriff, der die weiblichen Genitalien aus nicht-medizinischen Gründen verändert. Sie stellt eine Verletzung der Menschenrechte und daraus abgeleitet der Rechte auf sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen und Mädchen dar. Dabei ist die FGM/C ein universelles Problem, das Länder in Afrika, im Nahen Osten, in Asien sowie europäische Länder betrifft. Weltweit sind mindestens 200 Millionen Frauen und Mädchen in mehr als 40 Ländern von FGM/C betroffen. In Deutschland sind nach neuesten Erhebungen mindestens 70.000 Frauen betroffen, europaweit fast eine Million.
Einige Kulturen rechtfertigen die weibliche Genitalverstümmelung mit einem System der Aneignung und Kontrolle über den Körper, die Sexualität und die Fruchtbarkeit von Frauen und Mädchen. Diese archaische und patriarchalische Praxis basiert auf einem Fundament aus fehlerhaften sozialen Normen und religiösen Überzeugungen. Weder die Bibel, der Koran noch die Thora verlangen, dass ein Mädchen oder eine Frau beschnitten wird.
“Männer für die Gleichberechtigung der Geschlechter”
Bewusstseinsbildung und Aufklärung, unterstützt durch die Arbeit von engagierten Frauen und Gesundheitspersonal unter aktiver Beteiligung von Männern, könnten jedoch neue Impulse geben, um bis 2030 eine Nulltoleranz gegenüber FGM/C zu erreichen. In der Tat ist das Engagement der Männer im Kampf für die Gleichstellung der Geschlechter und gegen die Ausübung genitaler Beschneidung ein starkes Signal. Wenn der „Märchenprinz“ klar zum Ausdruck bringt, dass er die unbeschnittene und damit unversehrte Frau heiratet, wird sich seine kulturelle und familiäre Umgebung bewusst, dass Gleichstellung ein Fortschritt und eine Zunahme an gegenseitigem Respekt und damit gemeinsamem Erfolg bedeutet. Der Mann, so muss der nächste Schritt in unserer Arbeit lauten, kann seine Macht dafür nutzen, die weiblichen Mitglieder seiner Gesellschaft – und damit auch sich selbst – zu stärken.
Der Schutzbrief der Bundesregierung
Um der Nulltoleranz gegen FGM/C entschlossen die Stirn zu bieten, haben das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das Justizministerium, das Außenministerium und das Kanzleramt in Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation “Lessan”, gegründet von Gwladys Awo und Jochen Dieselhorst, und anderen NGOs nun einen Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung entwickelt und in einer im Europäischen Parlament organisierten Videokonferenz am 4. Februar 2021 offiziell von der Bundesministerin Franziska Giffey herausgegeben.
Der Schutzbrief ist ein offizielles Dokument der deutschen Regierung, das Bewusstsein schaffen und präventiv eingesetzt werden soll, um FGM/C als das zu kennzeichnen, was es ist: ein Verbrechen an (meist jungen) Mädchen und Frauen. Es ist ein starkes Signal an die Gemeinschaften, die weibliche Genitalverstümmelung/-beschneidung praktizieren und der Aufruf ist nun, dieses Dokument und die darin enthaltene Botschaft zu verbreiten. Gemeinden in Deutschland, in denen weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wird, sollen nicht stigmatisiert oder diskriminiert, sondern sensibilisiert werden, ihre Töchter zu schützen.
Der Brief ist auf der Website des Familienministeriums zu finden und kann auf den Websites der zuständigen Ministerien, Bundesländer und einiger Nichtregierungsorganisationen (NGOs) heruntergeladen und bestellt werden. In naher Zukunft wird das gedruckte Faltblatt auf Deutsch und übersetzt ins Englische, Französische, Arabische und in diverse afrikanische und asiatische Sprachen bei NGOs, in Beratungsstellen und Arztpraxen ausliegen, um das Beratungspersonal bei der Aufklärung zu unterstützen. Kern des Schutzbriefs ist die Information über rechtliche Konsequenzen in Deutschland für jede Person, die eine Beschneidung an einem Mädchen oder einer Frau durchführt, auch wenn dies in der jeweiligen ursprünglichen Heimat geschieht. Bei der Rückkehr nach Deutschland droht dann eine Strafe von bis zu 15 Jahren Haft und der Verlust der Aufenthaltserlaubnis. Gleiches gilt für Zwangsverheiratungen von Mädchen und Jungen unter 15 Jahren.
Der Schutzbrief hat für die ausgewanderten Familien den Vorteil, dass sie sich so dem Zugriff ihrer – oft für sie sehr mächtigen – Ursprungsfamilien entziehen können, wenn sie ihr Heimatland besuchen. Der Druck, der von Mitgliedern der Ursprungsfamilie häufig ausgeübt wird, ist eine subtile Form der psychischen Gewalt und hat großen Einfluss auf Einzelne. In der Tat bringen immer wieder viele Migrantinnen ihre Besorgnis und ihre Machtlosigkeit zum Ausdruck, die Beschneidung ihrer Töchter vor den Augen ihrer Familien in der Heimat abzulehnen. Angst vor Spott, vor einem „Fluch“ oder dem Ausschluss aus der Herkunftsgemeinschaft führen häufig dazu, dass eine Exzision trotz innerer Ablehnung und trotz der Kenntnis schädlicher Folgen akzeptiert wird. In diesem Sinne kommt der Schutzbrief zur richtigen Zeit und kann gewissermaßen als Schutzschild vor der Ursprungsfamilie gesehen werden: Eine Inhaftierung in Deutschland kann für die Ursprungsfamilie im Herkunftsland durchaus den Verlust finanzieller Unterstützung bedeuten.
Die Auswirkungen der Pandemie Covid-19
Die Auswirkungen der aktuellen Pandemie sind auch im Rahmen der Thematik FGM/C katastrophal. Die Schließung von Schulen, Kindergärten und Begegnungszentren führt in vielen Fällen zu Isolation und einem überproportionalen Anstieg von häuslicher Gewalt – und auch zu einem Anstieg von Fällen weiblicher Beschneidung. Frauen und Mädchen haben keine Anlaufstelle mehr und damit niemanden, dem sie sich anvertrauen können. In vielen ethnischen Gruppen herrscht eine allgemeine Kultur des Schweigens, was die Situation aufgrund der fehlenden Kontakte für Migrantinnen nur noch verschlimmert.
Die Europäische Union und FGM/C
Die Europäische Union unterstützt finanziell Organisationen wie Lessan e.V. mit dem Projekt “Männer engagieren sich für die Gleichstellung der Geschlechter”, dessen Schirmherrschaft ich übernommen habe. Lessan e.V. hilft, wie so viele andere Vereine in diesem Bereich in Deutschland, die körperliche Unversehrtheit von Frauen und Mädchen kultursensibel zu schützen, damit wir die Abschaffung von weiblicher Genitalverstümmelung und Zwangsehe erreichen können. Dabei geht es nicht darum, gegen Traditionen zu kämpfen, sondern für die Abschaffung von Gewalttaten, die die Gesundheit von Frauen und Mädchen beeinträchtigen, weshalb die Istanbul-Konvention des Europarates ein so wichtiger Vertrag ist.
Die Istanbul-Konvention verurteilt Gewalt gegen Frauen als schwere Verletzung der Menschenrechte. Häusliche Gewalt ist in ganz Europa weit verbreitet, obwohl viele Menschen immer noch die Augen davor verschließen wollen. Bis heute haben 46 Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet, 34 davon haben sie inzwischen ratifiziert. Somit ist augenscheinlich, dass noch viel Arbeit vor uns liegt, wenn es darum geht, Gewalt gegen Frauen europaweit zu unterbinden.
Am 11. Februar 2020 war ich für unsere Partei “Bündnis90/die Grünen” Berichterstatterin für die Resolution im Europäischen Parlament zur Entwicklung einer Strategie der EU zur Beendigung von FGM/C auf europäischer Ebene. Diese Resolution wurde mit großer Mehrheit angenommen. Sie erkennt zum Beispiel an, dass Genitalverstümmelung eine grobe und systematische Verletzung der Menschenrechte, eine Form der Gewalt gegen Frauen und Mädchen und ein Ausdruck von Ungleichheit der Geschlechter ist. Die Resolution unterstreicht auch, dass Artikel 38 der Istanbul-Konvention die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, jeden zu bestrafen, der ein Mädchen dazu anstiftet, zwingt oder anwirbt, sich einer genitalen Beschneidung zu unterziehen. Die Konvention schützt nicht nur Mädchen und Frauen, die von FGM/C bedroht sind, sondern auch diejenigen, die unter den Folgen der Praxis leiden.
Gewalt und psychischer Druck
Das Spektrum der psychischen Gewalt im Rahmen von FGM/C ist sehr breit gefächert und die Narben tief verankert. Es ist noch viel Arbeit zu leisten, um deutlich zu machen, welche Traumata Opfer weiblicher Genitalverstümmelung/-beschneidung davon tragen: noch nicht häufig genug sind diese Gegenstand von Forschung und Diskussion. Auch in bestimmten Umfeldern und Prozessen wie z.B. im Asylkontext wird noch nicht genügend Sensibilität für das Thema an den Tag gelegt: In Anhörungen müssen Frauen und Mädchen häufig ungeschützt einen entsprechend intimen Teil ihres Lebens wiedergeben und durchleben traumatisierende Situationen dadurch immer wieder. Oft werden diese Anhörungen von männlichen Entscheidungsträgern und Untersuchungen von männlichen Ärzten durchgeführt, was bestimmte kulturelle Werte nicht respektiert und nicht zuletzt Ängste bei den betroffenen Frauen schürt. Die europäischen Mitgliedsstaaten müssen die Würde und das Bedürfnis nach Schutz dieser schon verletzten Frauen und Mädchen respektieren: Untersuchungen sollten ausschließlich von Ärztinnen und Anhörungen nur von Mitarbeiterinnen durchgeführt werden, die mit hoher Sensibilität mit dem Thema FGM/C umzugehen in der Lage sind.
Deutsche Regierung sendet mit Schutzbrief starkes Signal
Ich danke der deutschen Regierung aufrichtig, dass sie mit diesem Schutzbrief ein starkes Signal an betroffene Gemeinschaften in Deutschland sendet, damit diese ihre Töchter ohne Angst vor dem Zorn ihrer Ursprungsfamilien schützen können. Wenn wir zusammenarbeiten, haben wir die Chance, bis 2030 eine Nulltoleranz zu erreichen oder ihr sehr nahe zu kommen. Der 6. Februar 2021 ist ein Alarmsignal, damit nichts, auch nicht COVID-19, eine Entschuldigung für die Abwesenheit oder Verringerung menschlicher, materieller und finanzieller Anstrengungen im Kampf für die Beseitigung der FGM/C sein kann. Im Einklang mit dem diesjährigen Thema, das vom Interafrikanischen Komitee (CI-AF) proklamiert wurde, rufe ich aus:
“Keine Entschuldigung für globale Untätigkeit: Vereinigen, finanzieren und handeln, um weibliche Genitalverstümmelung zu beenden”.