Sehr geehrter Herr Minister Herrmann,
im Rahmen der europäischen und deutschen Migrationspolitik wird viel über Integration bzw. misslungene und gelungene Integration gesprochen.
Das 13-jährige Mädchen Anahit H. ist ein Beispiel für sogenannte „gelungene“ Integration. Als Schülerin des Ohm-Gymnasiums Erlangen gut eingebunden in die sozialen Strukturen der Stadt, anerkannt als Freundin, Mitschülerin und Schülerin, wurde sie zusammen mit ihren Eltern in einer Nacht- und Nebelaktion förmlich aus dem Bett gerissen und in die ursprüngliche Heimat ihrer Familie, nach Armenien, abgeschoben. Wir, auch Sie als Innenminister Bayerns, wissen, was die Entwurzelung eines jugendlichen Menschen aus seiner vertrauten Umgebung – auch Heimat genannt – und die Übersiedlung in eine fremde Stadt bedeutet: Den Bruch sämtlicher entstandenen Beziehungen, den Verlust eines Grundvertrauens in die eigenen Lebensstrukturen, den Abbruch einer bisher erfolgreichen Schullaufbahn, das Verlieren sämtlicher aufgebauter Perspektiven. Bedauerlicherweise ist dies das Schicksal etlicher jungen Menschen in unserem Land und dies während der Covid-19 Pandemie.
Anahit und ihre Eltern auf eine derartige Weise abzuschieben, konterkariert nicht nur die Bemühungen und das Engagement der Lehrer*innen, Erzieher*innen und Begleiter*innen von Anahit, sie ist darüber hinaus ein Angriff auf die Rechte eines jungen Menschen, dem nichts anzulasten ist, außer dem Bedürfnis danach, das eigene Leben positiv zu gestalten.
Viele Mitbürger*innen gehen in diesen Tagen in Erlangen auf die Straße, um für Anahit und ihre Familie ihren Zorn und ihre Solidarität zu bekunden. Mit ihrem Protest möchten sie und die verantwortlichen Instanzen dazu aufrufen, ihre Vorgehensweisen zu überdenken und Handlungen zu revidieren.
Als Abgeordnete im Europäischen Parlament, als ehemalige Stadträtin der Stadt Erlangen und auch als ehemalige Lehrerin des Ohm-Gymnasiums Erlangen kann ich dieses Aufstehen fürMitmenschen nur bekräftigen und begrüßen. Anstatt Risse, Gräben und Löcher herzustellen, sollte Politik versuchen, Zusammenleben zu gestalten. Als Menschen sind wir in jeder Hinsicht Einzelfälle, und gerade im Zusammenhang mit solch radikal ausgeführten Aktionen an einzelnen, muss genau hingeschaut und überprüft werden.
Sehr geehrter Herr Minister Herrmann, ich bitte Sie hiermit als Christ darum, ebenso aufzustehen.
Es muss unsere Pflicht sein, junge Menschen zu stärken, statt sie zu entkräften. Wir müssen gute Wege als solche anerkennen, anstatt sie abzuschneiden. Wir müssen ein Miteinander als wesentlichen gemeinschaftlichen Wert würdigen, der auf Basis der erfolgreichen Integration nicht mit Abschiebung entwertet werden darf.
Ich bin mir sicher, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg und dass Sie diese Menschen und ihre Familien zurückholen können, auf, dass sie das Leben, das sie sich aufgebaut haben, weiterführen können. Es wäre wünschenswert, dass der Weg eines jungen Menschen, so wie der von Anahit, seinen Horizont behält.
Dr. phil. Pierrette Herzberger-Fofana, MdEP
Mitglied des Europäischen Parlaments